Stellungnahme einer HIV-Betroffenen | |||||
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Über Verdrängung, Verluste, Solidarität und den Wunsch, weiterzuleben Am liebsten würde ich die Krankheit einfach verdrängen. Nicht
daran denken, Tag für Tag, Stunde um Stunde, Minute um Minute und
– es ist wahr, so ist es mir in den ersten Wochen gegangen, nachdem
ich erfahren hatte, dass ich HIV-positiv bin - Sekunde um Sekunde. Wahrscheinlich
ist es ein Fortschritt, dass ich nicht dauernd daran denken will, dass
ich eine stigmatisierte, weil sexuell übertragbare und unheilbare
Krankheit habe. Ich will nicht mehr daran denken, dass sich meine Lebensperspektiven
so radikal verengt haben und ich so viele Verluste akzeptieren muss: Aber vielleicht muss das nicht immer so bleiben. Nach dem Schock, der Trauer und dem Schmerz beginnt man sich wieder zu erholen – ich hoffe, das geht auch anderen so –, und parallel zu den Verlusterfahrungen mobilisiert man alle möglichen Ressourcen, um physisch und psychisch am Leben zu bleiben. Dazu gehört in meinem Fall die Arbeit, die ich gern tue, die mich ablenkt und mich nützlich fühlen lässt. Dazu gehört der Freundeskreis, der mich nicht im Stich gelassen hat, die ebenso solidarische Familie und – last but not least - die Medizin. Heute kann ich mit HIV überleben; kann dank der Medikamente und einem Gesundheitssystem, das mir den kostenlosen Zugang zu diesen Medikamenten ermöglicht, mit körperlicher Erholung und einer ganz guten Lebenserwartung rechnen. Ich hasse zwar die vielen Pillen, die ich oft nur schwer schlucken kann und die mich zwingen, jeden Tag um die gleiche Uhrzeit aufzustehen und zur gleichen Uhrzeit Abend zu essen (was mich immer daran erinnert, dass mein Leben nicht mehr dasselbe ist), aber sie lassen mich überleben. Und dafür bin ich dankbar; unendlich dankbar, dass ich nicht jetzt sterben muss, sondern erst später, vielleicht erst, wenn ich schon alt bin. Aber wenn ich daran denke, dass ich zu den privilegierten wenigen Prozent der Menschen gehöre, die diesen Zugang zu den lebensrettenden Medikamenten haben, dann wird mir schlecht. Dann denke ich mir, dass ich nie wieder in ein armes Land reisen und den Menschen ins Gesicht sehen kann, die an derselben Krankheit elend sterben. Und ich fürchte, man stirbt elend, wenn man in einem armen Land lebt und Aids hat. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie die Krankheit anfängt: Das Immunsystem wird schwächer und damit die Haut trocken und rissig; man kriegt Entzündungen, es entwickelt sich Scheidenpilz, der nicht mehr weggeht und immer schlimmer und schmerzhafter wird; Mundpilz, Paradontose. Man verliert Gewicht, wird immer müder und erschöpfter und es wird zunehmend anstrengender, die Arbeit und die Hausarbeit zu bewältigen. Dabei ist das nur der Anfang, die Phase der „opportunistischen Infektionen“, und noch nicht die sogenannten Aids-definierenden Krankheiten wie Tuberkulose, Gebärmutterkrebs, Gehirntumor oder andere. Mit ein bisschen Pech kann Aids zwar (fast) jede/n treffen. Aber in Summe sind es heute die sozial schwächsten Gruppen und Frauen, die das höchste Krankheitsrisiko tragen: weil sie großen Belastungen ausgesetzt sind und Risikosituationen entweder nicht erkennen oder man/frau nicht in der Lage ist, sich nach den Regeln des Safer Sex zu verhalten: das gilt vor allem im Kontext von wirtschaftlicher Abhängigkeit (auch in der Ehe), Prostitution und sexueller Gewalt. Ich bin davon überzeugt, dass die Ausbreitung von HIV/Aids und anderer Infektionskrankheiten eingedämmt werden könnte, wenn die Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse in der internationalen Politik im Vordergrund stehen würde und die Entwicklungsländer mehr Geld für ihre öffentlichen Gesundheitssysteme und das Bildungswesen ausgeben könnten. Doch Investitionen in diesem Bereich werden von den Industrieländern, die bei IWF und Weltbank das Sagen haben, seit Jahrzehnten konsequent verhindert. Den Ländern des Südens wird vielmehr ein Strukturanpassungsprogramm nach dem nächsten aufgezwungen, die allesamt Einsparungen im öffentlichen Haushalt und den Abbau sozialer Infrastruktur mit sich bringen. Wie soll sich etwas verbessern, solange der politische Wille der reichen und mächtigen Länder zu mehr sozialer Gerechtigkeit und faireren Weltwirtschaftsstrukturen fehlt? Von den Industriestaaten gibt es das uralte Versprechen, zumindest 0,7% des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung zu stellen, aber auch davon sind wir meilenweit entfernt. Ich weiß nicht, wie die Außenministerin, der Finanzminister und der Bundeskanzler - die diese Ämter ja übernommen haben, um gesellschaftliche Probleme zu lösen - ruhig schlafen können, während ein paar Flugstunden entfernt Menschen an behandelbaren Krankheiten und Hunger sterben. Geht uns das als viertreichstes Land in der EU nichts an? Das Verdrängen von bitteren Realitäten schützt; es ist ein Überlebensmechanismus. Aber er funktioniert nur eine Zeit lang, und er funktioniert nicht für Gesellschaften als Ganzes. Je später man sich der Realität stellt, umso größer werden die Probleme in der Zwischenzeit. Vor allem brauchen diejenigen Menschen, die selbst das höchste Risiko tragen, in besonderem Maß die offenen Augen und die Unterstützung der anderen. Antiretrovirale Medikamente helfen überleben. Sie mindern auch das Ansteckungsrisiko, und sie erhöhen die Bereitschaft von möglicherweise ebenfalls Betroffenen, sich mit der Realität zu konfrontieren, weil es eine Überlebensperspektive gibt. Ich glaube, nur wenn es für alle zugängliche Medikamente gibt und die sozialen Verhältnisse zumindest so sind, dass sich auch alle ausreichend ernähren und bilden können, gibt es eine Chance auf Eindämmung der Krankheit. Ich hoffe, dass der Zusammenschluss von engagierten Menschen quer über den Erdball etwas bewirken kann und im Fall von HIV/Aids auch die Menschen in den armen und am stärksten marginalisierten Ländern trotz der schwierigen Bedingungen bald Zugang zu den lebensrettenden Medikamenten haben werden. Es gibt ein Menschenrecht auf Leben und Gesundheit; das darf nicht einfach nur eine Worthülse sein. Laura B., 10.7.2004 anlässlich der "Nacht der Solidarität"
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